Zahlen und Mengen begegnen uns ständig. Sei es beim Einkaufen oder Kochen nach Rezept, beim Lesen der Uhrzeit und bei der Wettervorhersage. Schnell mal die Restaurantrechnung im Kopf überschlagen oder beim Backen abschätzen, wie groß die erforderliche Menge Mehl in etwas sein sollte, das ist doch selbstverständlich? Nicht für Menschen mit Dyskalkulie! Diese haben kein Grundverständnis über den Zahlenraum aufgebaut. Dadurch sind sie im Alltag deutlich benachteiligt. Gleichzeitig sind Menschen mit Rechenstörung, wie der offizielle deutsche Name lautet, keinesfalls dümmer oder fauler als ihr Umfeld und in allen Bevölkerungsschichten vertreten. Und mit einer geeigneten Herangehensweise lassen sich diese Schwierigkeiten sogar beheben.
Definition der Dyskalkulie
Die Dyskalkulie wird auch Rechenstörung oder Rechenschwäche genannt, wobei im engeren Sinne nur die ersten beiden Begriffe korrekt sind. Der Begriff Rechenschwäche ist unscharf definiert und wird oft für weniger stark ausgeprägte und vorübergehende Schwierigkeiten beim Rechnen verwendet. Eine Dyskalkulie tritt auf bei normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz und bei vorhandener schulischer und familiärer Lernanregung.
Eine Rechenstörung wird nach dem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation eingeordnet unter den „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ und definiert als „Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist.“
Sie fällt somit wie die Lese-Rechtschreib-Schwäche unter die Teilleistungstörungen und bezieht sich explizit auf Defizite im Bereich der schulischen Fertigkeiten .Also um Defizite beim Erwerb von definierten Kulturtechniken, wie wir sie in unserem System vermitteln und für relevant erachten. Anders als bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, können betroffene Kinder in den Schulen der meisten deutschen Bundesländern dennoch nicht mit einem Nachteilsausgleich oder Notenschutz rechnen. Ganz ähnlich gestalten sich das auch in Österreich und der Schweiz.
Eine Dyskalkulie kann natürlich auch Erwachsene betreffen, aber auch hier ist sie, unabhängig vom möglichen Diagnosezeitpunkt, bereits seit der Kindheit vorhanden.
Welche Ursachen haben Rechenstörungen?
Die Forschung zu Rechenstörungen ist noch recht jung und bislang gibt es kaum überzeugende Erklärungen dafür, wie und warum genau eine Rechenstörung entsteht.
Medizinisch-neuropsychologische Erklärungsansätze
Bekannt ist, dass mehrere Bereiche des Gehirns genutzt werden, wenn wir rechnen, und dabei aktiviert werden. Diese Aktivität lässt sich anhand von MRT-Aufnahmen (Kernspin) des Gehirns darstellen. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die für das Rechnen verantwortlichen Hirnregionen bei Kindern mit Rechenstörungen weniger und anders aktiv sind. Dies steht im Einklang mit der Erkenntnis, dass Betroffene in Zahlen nur leere Worte oder Symbole sehen, die keine weitere Bedeutung haben. Die Wissenschaftler vermuten, dass eine Entwicklungsstörung der neuronalen Netzwerke, die für die Zahlenverarbeitung notwendig sind, verantwortlich für die Rechenschwäche ist.
Andererseits ist natürlich auch denkbar, dass die erschwerte, und oft über Umwege ausgeführten Rechenoperation zu einer veränderten Hirnaktivität führen. Denn ein Zusammenhang zwischen Hirnaktivität und Tätigkeit besteht in beide Richtungen. Um klare Aussagen über Ursache und Wirkung machen zu können, sind Untersuchungen über einen gewissen Zeitverlauf an den immer gleichen Menschen erforderlich. Denn nur, wenn wir wissen, was zuerst da war, können wir mit ausreichend hoher Sicherheit eine Kausalität annehmen.
Untersuchungen an Familien und Zwillingen deuten zudem darauf hin, dass es eine genetische Komponente gibt. Wie bedeutsam diese jedoch ist, lässt sich aus den Ergebnissen nicht ableiten.
Psychosoziale und schuldidaktische Erklärungsansätze
Neben genetischen und neuro-psychologischen Faktoren gibt es auch immer psychosoziale, familiäre und schulische Faktoren, die das Rechnen Lernen und das Lernen im Allgemeinen beeinflussen. Starre Strukturen, stark standardisierte Methoden, fehlendes Einfühlungsvermögen und überzogene Erwartungshaltungen in vielen Schule führen dazu, dass die Schüler nicht abgeholt werden, wo sie in ihrer Entwicklung stehen. Sie bekommen keine Lernstrategien angeboten, die zu ihren individuellen Bedürfnissen passen.
Zwar zeigen Erhebungen zur Häufigkeit von Dyskalkulie in unterschiedlichen Ländern eine ähnliche Größenordnung, dennoch gibt es regionale Unterschiede. In Deutschland weisen zwischen drei und sieben Prozent der Menschen eine Dyskalkulie auf. Mädchen und Jungs sind dabei gleich stark betroffen. In den USA kommen Rechenstörungen hingegen häufiger vor. Es ist durchaus plausibel, dass Unterschiede im Schulsystem dafür (mit-)verantwortlich sind.
Selbst grundlegenden Rechenschwierigkeiten muss nicht unbedingt eine Rechenstörung zugrunde liegen. In vielen Fälle sind tatsächlich Probleme mit dem Lesen und Schreiben ursächlich dafür. Insbesondere wenn sich die Probleme bei Textaufgaben verstärken, liegt dieser Verdacht nahe. Wer nicht gut lesen kann, ist in vielen Bereichen stark herausgefordert, eben auch im Fach Mathematik. Diese Kinder und Jugendliche verstehen insbesondere komplexere Texte nicht oder nicht richtig. So fällt den Betroffenen das selbständige (Nach-)Lernen aus einem Buch sehr schwer. Oft können sie wichtige Rechenregeln deshalb nicht verstehen und anwenden. Wenn sie dann noch Textaufgaben lösen sollen, sind sie massiv überfordert. Als Rechenschwäche lassen sich diese Probleme dennoch nicht erklären.
Anzeichen einer Dyskalkulie
Ein Rechenschwäche zeigt sich in erster Linie durch mangelhafte Beherrschung der Grundrechenarten Addition (plus), Subtraktion (minus), Multiplikation (mal) und Division (geteilt).
Frühe Anzeichen
Erste Anzeichen einer Rechenschwäche fallen häufig im Grundschulalter auf. Die Kinder verstehen Ziffern vielfach nicht als Angaben für abzählbare Mengen, sondern sehen nur den reinen Symbolcharakter. Statt mathematischen Zusammenhänge zu begreifen, lernen sie Rechenoperationen auswendig. Sie eignen sie sich standardisierte Wege an, die keine Zusammenhänge erschließen lassen, Fehler begünstigen und insgesamt nicht hilfreich für das Verständnis sind. Häufig benötigen sie deutlich mehr Zeit zum Lösen von Rechenaufgaben, als ihre Mitschüler, dennoch schleichen sich regelmäßig Zahlendreher ein.
Neuere Untersuchungen zeigen, dass bei einige Betroffenen schon im Kindergartenalter erste erkennbare Probleme im mathematischen Frühverständnis auftreten. So haben sie als Vorschulkinder Schwierigkeiten Mengen zu benennen und Verhältnisangaben richtig zuzuordnen ( kleiner, größer, mehr, weniger). Sie tun sich oft schwer eine Anzahl von Gegenständen richtig abzuzählen. Der Umgang mit Maß- und Mengenangaben, wie Gewicht, Zeit oder Geld bereitet ihnen ebenfalls mehr Schwierigkeiten als ihren Altersgenossen.
Rechenschwäche bedeutet nicht gleich Dyskalkulie
Auch hinter größeren Rechenschwierigkeiten muss allerdings nicht unbedingt eine Dyskalkulie stecken. Von allen Schülern, die im ersten Schuljahr Schwierigkeiten mit Zahlen haben, entwickeln sich die Leistungen beim Rechnen bei etwa einem Drittel in den nächsten Jahren völlig unauffällig. Kinder entwickeln sich schließlich nicht alle gleich und sind zu unterschiedlichen Zeiten bereit, sich auf bestimmte Themen einzulassen.
An freien Schulen und Montessorischulen lässt sich gut beobachten, wie sich die Kinder einer Jahrgangsstufe zur gleichen Zeit auf völlig verschiedene Themenbereiche stürzen. So mag das eine Kind voller Begeisterung rechnen und das andere lernt mit Hingabe lesen. Ein paar Monate später, kann es dann genau andersherum sein. An den staatlichen Grundschulen bestehen diese Möglichkeiten in aller Regel nicht. Hier müssen alle zu jeder Zeit genau die gleichen Themen in der gleichen Weise bearbeiten. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Kinder in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich aufnahmebereit und aufnahmefähig sind, ohne dass es sich um eine Störung handelt, selbst wenn manche Lehrkräfte das schnell annehmen.
Rechenschwächen in der Grundschule
Eine Dyskalkulie ist eine “umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten”, was bedeutet, dass sie hauptsächlich im schulischen Kontext zum Tragen kommt, zumindest anfangs. Betroffene haben größere Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen und Mengen als ihre Klassenkameraden. Schon der Umgang mit geschriebenen und gesprochenen Zahlen fällt vielen diesen Kindern schwer. Sie verwechseln häufig die Grundrechenarten, benötigen vergleichsweise viel Zeit für die Aufgaben und kommen dennoch oft zu falschen Ergebnissen.
Im Einzelnen kann das bedeuten, dass sie
- Schwierigkeiten haben beim Benennen und Schreiben von Zahlen
- grundlegende Rechenschritte nicht verstehen, sondern stattdessen auswendiglernen
- Rechenlogik nicht auf ähnliche Aufgaben übertragen können
- Rechenaufgaben auffällig langsam und über Abzählen lösen
- Zahlen nicht den entsprechenden Mengen zuordnen können
- Rechenarten verwechseln
- Textaufgaben nicht in Zahlen darstellen können
- Probleme beim Lesen der Uhrzeit oder beim Umgang mit Geld haben
- Angst vor dem Rechnen und der Schule entwickeln
- Vermeidungs- oder Verweigerungsverhalten aufbauen
- körperliche Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Übelkeit entwickeln
- einen Verlust von Selbstvertrauen oder Schuldgefühle erleben
Bei Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20 kommen einige Kinder noch über den zählenden Weg unter Zuhilfenahme ihrer Finger halbwegs gut zurecht. Aber selbst hier häufen sich scheinbar willkürliche Fehler, insbesondere wenn es um Zehnerübergänge geht. Bei genauerer Betrachtung, zeigt sich eine klare Systematik in den Fehlern, die nicht bei jedem Kind der gleichen Logik folgen muss, aber in sich meist sehr konsistent ist.
Grundsätzlich ist gegen das zählende Rechnen mit Fingern nichts einzuwenden, wenn es in der frühen Lernphase als Hilfsmittel dient. Schon nach kurzer Zeit sollten die Kinder jedoch ihre Finger vor allem für einfache und geübte Aufgaben nicht mehr benötigen. Weiteres Fingerrechnen ist ein Anzeichen, dass wichtige Zusammenhänge noch nicht verstanden wurden und verhindert gleichzeitig, dass sich dieses Verständnis entwickeln kann. Das vermehrt Üben und intensivierte Abarbeiten der immer gleichen Arbeitsblätter führt hier zu keinen besseren Ergebnissen, da es ebenfalls kein Verständnis für die Zahlenwelt hervorbringt.
Die Rechenaufgaben werden schon in der Grundschule schnell komplexer. Kinder, die die Grundlagen nicht beherrschen, stehen deshalb bald vor unlösbaren Problemen. Wenn die Kinder hier nicht gut aufgefangen werden, stellt sich bei ihnen unter Umständen schon sehr früh das Gefühl ein, zu dumm zu sein oder ein Versager zu sein. In der Folge können weitere, oft unspezifische Symptome, wie Schulangst, Depressionen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder auch Schulverweigerung auftreten.
In der Folge trauen sich die Kinder immer weniger zu, die Dyskalkulie beginnt sich auf das gesamte Leben auszuwirken und wird zum alles bestimmenden Thema. Die Kinder oder Jugendlichen errichten innere Mauern, um sich zu schützen, und gehen im extremsten Fall in eine komplette Schulverweigerung. Eine eigentlich kleine, sehr klar umschriebene Lernschwäche kann so zur Ursache eines Schulversagens werden.
Dyskalkulie bei Erwachsenen
Eine Dyskalkulie verschwindet nicht von selbst und endet somit nicht mit der Schulzeit. In der Regel führt sich noch im Erwachsenenalter zu Problemen vor allem in der Aus- und Weiterbildung, beim Studium, und im Beruf. Auch der private Bereich bleibt nicht unbedingt verschont. Denn allzu oft leiden die betroffenen Menschen zusätzlich an einem Mangel an Selbstbewusstsein und anderen psychischen Problemen, geboren aus dem Erleben, dass allen andern Menschen scheinbar mühelos gelingt, was sie vor ungeheure Probleme stellt.
Technische Hilfsmittel, wie Taschenrechner, leisten einen wichtigen Beitrag in der Bewältigung der eigentlichen Rechenschwäche, insbesondere in Ausbildung und Beruf. Auch digitale Anzeigen anstelle analoger Ziffern helfen bei Dyskalkulie weit.
Gegen alle anderen unliebsamen Begleiterscheinungen, insbesondere die psychischen, wirkt am besten eine frühe fachkundige Begleitung bereits in der Kindheit. Aber selbst im Erwachsenenalter kann eine psychologische Therapie durchaus noch sehr gute Erfolge erzielen.
Was tun bei Rechenstörungen?
Den Eltern eines Kindes, das mit grundlegenden Rechenschwierigkeiten in der Schule auffällt, wird üblicherweise nahegelegt, einen Test auf Dyskalkulie machen zu lassen. Wenn sich in diesem Test die Verdachtsdiagnose bestätigt, wird den Eltern zu einer Lerntherapie geraten
Ziel der Lerntherapie bei Dyskalkulie ist, dass das Kind durch individuelle Herangehensweisen ein Gefühl für Zahlen entwickelt. Denn der Zusammenhang von Zahlen und Mengen und die Logik hinter den Grundrechenarten sind auch für ein Kind mit Dyskalkulie zu begreifen. Was es dafür benötigt, ist eine ganz individuelle und gezielte Begleitung, die sich nach den jeweiligen Stärken und Schwächen richtet und an den Leistungsstand angepasst ist.
Zwar gibt es Lerntherapeuten, die sich auf Dyskalkulie spezialisiert haben und sicherlich gute Arbeit leisten, dennoch muss nicht unbedingt eine Lerntherapie in Anspruch genommen werden.
Inzwischen gibt es sehr gute, ressourcenorientierte Ansätze, die ohne eine Pathologisierung der Rechenstörung auskommen. Diese werden meist unter dem Begriff “Mathecoaching” angeboten und sind auch in reinen Onlinevarianten verfügbar. Hier werden üblicherweise die Eltern geschult, mit Übungsmaterialien versorgt und kontinuierlich unterstützt, um ihre Kinder selbst effektiv und nachhaltig bei deren Rechenschwierigkeiten begleiten zu können. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt auf der Hand. Die Förderung kann auf eine vorbestehende, vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Kind aufbauen und sehr kontinuierlich im gewohnten Umfeld stattfinden. Auch steht ein Mathecoaching allen Familien zur Verfügung, unabhängig von einer Testung und Diagnose. Für gewöhnlich muss es allerdings privat finanziert werden.
In jedem Fall lohnt sich ein frühzeitiger Beginn der Begleitung, denn dadurch lassen sich größerer schulische Probleme und psychische Folgeschäden am einfachsten vermeiden.
Fazit
Eine Dyskalkulie ist eine Rechenstörung, die mit einer grundlegenden Beeinträchtigung des Zahlenverständnis und der Rechenfertigkeit einhergeht. Für die Betroffenen und ihre Familien führt das zu großen Herausforderungen in Schule, Beruf und Alltag. Durch eine möglichst frühzeitige, individuelle Begleitung kann die Rechenstörung gemindert, wenn nicht gar behoben werden. Schwerwiegende Folgeerscheinungen, wie Schulverweigerung oder Depression, treten gar nicht erst auf.